Ängstlicher vs. vermeidender Bindungsstil: Wie ihr als Paar eine sichere Bindung fördert
- Anna Wilitzki
- vor 6 Tagen
- 4 Min. Lesezeit
Warum unser Bindungsstil so viel über unsere Beziehung verrät
Viele Paare erleben immer wieder die gleichen Konflikte: Einer wünscht sich mehr Nähe, der andere zieht sich zurück. Einer braucht ständige Bestätigung, der andere fühlt sich schnell eingeengt. Diese Dynamik ist kein Zufall – sie hat oft mit unserem Bindungsstil zu tun, der in der Kindheit geprägt wird und unser Beziehungsverhalten als Erwachsene maßgeblich beeinflusst.
In diesem Beitrag erfährst du, was einen ängstlichen und einen vermeidenden Bindungsstil ausmacht, wie sie sich in der Partnerschaft zeigen und – vor allem – wie ihr gemeinsam eine sichere, stabile Bindung aufbauen könnt.

1. Was ist ein Bindungsstil?
Der Bindungsstil beschreibt, wie wir Nähe, Vertrauen und Abhängigkeit in Beziehungen erleben und gestalten. Die Bindungstheorie (John Bowlby, Mary Ainsworth) unterscheidet vor allem vier Typen:
Sicher gebunden
Ängstlich gebunden
Vermeidend gebunden
Ängstlich-vermeidend (unsicher-desorganisiert)
Im Alltag begegnen sich besonders häufig der ängstliche und der vermeidende Bindungsstil – und sorgen für typische Missverständnisse.
2. Der ängstliche Bindungsstil: Nähe suchen, Angst vor Verlust
Menschen mit einem ängstlichen Bindungsstil sehnen sich nach Nähe, Bestätigung und Sicherheit. Sie haben oft Angst, verlassen zu werden, und nehmen schon kleine Anzeichen von Distanz als Bedrohung wahr.
Typische Merkmale:
Starkes Bedürfnis nach Nähe und Rückversicherung
Angst vor Ablehnung oder Verlassenwerden
Überinterpretation von Konflikten („Du liebst mich nicht mehr“)
Schwierigkeiten, allein zu sein
Häufiges Grübeln über die Beziehung
Im Alltag:Der ängstliche Partner sucht häufig das Gespräch, fragt nach Liebe und Bestätigung, möchte Probleme sofort klären und fühlt sich schnell verunsichert, wenn der andere sich zurückzieht.
3. Der vermeidende Bindungsstil: Freiheit suchen, Angst vor Vereinnahmung
Menschen mit einem vermeidenden Bindungsstil schätzen Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit. Sie haben oft Angst, sich zu sehr auf jemanden einzulassen, und erleben Nähe schnell als einengend.
Typische Merkmale:
Starkes Bedürfnis nach Autonomie und Freiraum
Schwierigkeiten, Gefühle zu zeigen oder zuzulassen
Rückzug bei Konflikten („Ich brauche Zeit für mich“)
Abwertung von emotionalen Bedürfnissen
Tendenz, Probleme zu verdrängen
Im Alltag:Der vermeidende Partner zieht sich bei Stress zurück, vermeidet intensive Gespräche und fühlt sich schnell überfordert, wenn der andere zu viel Nähe einfordert.
4. Warum ziehen sich ängstliche und vermeidende Partner oft an?
Diese beiden Bindungsstile geraten häufig aneinander – und verstärken sich gegenseitig:
Der ängstliche Partner sucht Nähe → Der vermeidende Partner fühlt sich bedrängt und zieht sich zurück → Der ängstliche Partner wird noch unsicherer und sucht noch mehr Nähe → Der vermeidende Partner zieht sich noch weiter zurück.
Dieser Kreislauf kann zu viel Frust, Missverständnissen und emotionalem Schmerz führen. Aber: Er ist nicht unausweichlich! Mit Bewusstsein, Verständnis und neuen Verhaltensmustern können Paare gemeinsam eine sichere Bindung aufbauen.
5. Sichere Bindung fördern – so gelingt es euch als Paar
1. Wissen ist Macht: Den eigenen Bindungsstil erkennen
Der erste Schritt ist, sich selbst und den anderen besser zu verstehen. Sprecht offen darüber, wie ihr Nähe, Distanz und Konflikte erlebt. Erkennt eure Muster – ohne Schuldzuweisungen.
Übung:Macht gemeinsam einen Bindungsstil-Test (z. B. online oder im Buch „Halt mich fest“ von Sue Johnson) und sprecht über die Ergebnisse.
2. Bedürfnisse benennen – statt Vorwürfe machen
Statt „Du ziehst dich immer zurück!“ besser: „Ich merke, dass ich in Konflikten Nähe brauche und mich schnell verunsichert fühle, wenn du dich zurückziehst.“
Statt „Du klammerst ständig!“ besser: „Ich brauche manchmal Zeit für mich, um meine Gedanken zu sortieren. Das hat nichts mit meinen Gefühlen für dich zu tun.“
Tipp:Sprecht in Ich-Botschaften und benennt eure Bedürfnisse klar und liebevoll.
3. Kleine Schritte aufeinander zugehen
Der ängstliche Partner kann lernen, sich selbst zu beruhigen und nicht jede Distanz als Bedrohung zu sehen. Der vermeidende Partner kann üben, kleine Dosen von Nähe auszuhalten und sich in Konflikten nicht sofort zurückzuziehen.
Übung:Vereinbart feste „Check-in“-Zeiten, in denen ihr euch austauscht – so weiß der ängstliche Partner, dass Nähe kommt, und der vermeidende Partner, dass es einen klaren Rahmen gibt.
4. Sicherheit im Alltag schaffen
Sichere Bindung entsteht durch Verlässlichkeit, kleine Zeichen der Zuneigung und das Gefühl, sich aufeinander verlassen zu können.
Beispiele:
Kleine Rituale (Morgenkuss, Gute-Nacht-Nachricht)
Verlässliche Absprachen („Ich melde mich, wenn ich später komme“)
Wertschätzung und Lob für Fortschritte
5. Konflikte als Chance für Wachstum nutzen
Statt in alten Mustern zu verharren, könnt ihr Konflikte nutzen, um euch besser kennenzulernen und neue Wege zu finden.
Tipp:Macht euch bewusst: Euer Partner handelt nicht aus Bosheit, sondern aus Angst (vor Verlust oder vor Vereinnahmung). Das hilft, empathischer zu reagieren.
6. Hilfe von außen annehmen
Manchmal sind die Muster so festgefahren, dass ein neutraler Dritter (Paartherapeut:in) hilfreich ist. Dort könnt ihr lernen, eure Bedürfnisse zu kommunizieren und neue Strategien zu entwickeln.
6. Übungen für mehr Sicherheit und Verbundenheit
Übung 1: Das Bindungstagebuch
Jeder schreibt eine Woche lang auf, wann er sich sicher und wann unsicher gefühlt hat – und was der Partner dazu beigetragen hat. Am Ende der Woche besprecht ihr die Einträge.
Übung 2: Das Nähe-Distanz-Barometer
Jeder bewertet auf einer Skala von 1–10, wie viel Nähe oder Freiraum er gerade braucht. So könnt ihr Missverständnisse früh erkennen und besprechen.
Übung 3: Das Wertschätzungsritual
Jeden Tag nennt jeder eine Sache, die er am anderen schätzt. Das stärkt die positive Bindung und schafft Sicherheit.
7. Wissenschaftlicher Hintergrund: Bindung ist lernbar
Bindungstheorie (Bowlby, Ainsworth): Bindung entsteht durch wiederholte Erfahrungen von Sicherheit, Trost und Verlässlichkeit.
Emotionsfokussierte Paartherapie (Sue Johnson): Paare können auch nach Jahren unsicherer Muster eine sichere Bindung aufbauen, wenn sie lernen, ihre Ängste und Bedürfnisse offen zu teilen.
Neurobiologie: Wiederholte positive Erfahrungen verändern sogar die „Verdrahtung“ im Gehirn und machen neue Beziehungsmuster möglich.
8. Fazit: Gemeinsam zur sicheren Bindung
Ängstlicher und vermeidender Bindungsstil müssen kein Schicksal sein. Mit Bewusstsein, Offenheit und kleinen Schritten könnt ihr als Paar eine neue, sichere Basis schaffen.Sprecht über eure Bedürfnisse, feiert eure Fortschritte und bleibt geduldig – mit euch selbst und miteinander.So wird eure Beziehung zu einem Ort, an dem Nähe und Freiheit, Sicherheit und Wachstum möglich sind.
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